Es ist was es ist, sagt die Liebe

Stimmenhören – (k)eine Katastrophe?
4. Stimmenhörer-Kongress, 24./25. 10. 2003 in Berlin
www.stimmenhoeren.de

Susanne Heim:
Es ist was es ist, sagt die Liebe
Akzeptieren ohne zu verstehen?

Ich habe keine Erfahrung mit dem Stimmenhören – nur mit Tinnitus, aber der spricht ja nicht mit mir. Da höre ich einfach weg und kümmere mich nicht drum. Mein Sohn wiederum wollte sich vor vielen Jahren, ganz am Anfang seiner Erkrankung, einen „Hörer“ aus seinem Ohr ausbauen lassen. Er dürfte also damals Stimmen gehört haben. Aber er spricht nicht darüber. Mir ist freilich wieder eingefallen, dass ich als Kind mit imaginären Spielgefährten gesprochen habe. Es gibt Fotos, auf denen ich gestikulierend und offenbar in ernste Gespräche vertieft den Garten abschreite. So ähnlich mache ich das noch heute – z.B. nach einer Kontroverse oder einem Besuch bei Freunden: Ich diskutiere in Gedanken weiter, setze die Gespräche fort, beginne eventuell sogar ein neues Thema. Allerdings höre ich die Stimmen meiner imaginierten Gesprächspartner nie akustisch. Ich bin sicher, es würde mich zutiefst verunsichern, wenn so etwas passierte. Dies vorausgeschickt, wende ich mich also den Angehörigen und ihren Problemen zu. Wir alle werden ja immer wieder einmal – in der einen oder anderen Weise – zu Angehörigen: nämlich immer dann, wenn wir mit einem Menschen emotional eng verbunden sind, und erst recht, wenn dem ein Leid widerfährt. Dann trifft und be-trifft es auch uns. Als Angehörige – zumal als Familienmitglieder – sitzen wir mittendrin, orien­tie­rungs­los zwischen allen Stühlen. Und das macht Angst – vor allem den Eltern unter uns, die sich doch in besonderer Weise aufgerufen, verpflichtet fühlen, Halt und Orientierung zu geben. Eigentlich brauchen auch wir Ermutigung und Verständnis­hilfen.

Mitleid macht mutlos

Es wäre so wichtig, dass wir einen klaren Kopf bewahren, dass wir ruhig und gelassen bleiben, dass wir weniger ängstlich als vielmehr neugierig interessiert reagieren, wenn einem uns nahe stehenden Menschen Befremdliches widerfährt. Warum fällt das so schwer? Warum echauffieren wir uns, lassen uns in Panik verfallen, wenn ein geliebter Mitmensch etwas erlebt, das ihn befremdet, verunsichert, ängstigt - ihn befremdlich reagieren lässt? Vor lauter Schreck vergessen wir dann, erst einmal innezuhalten, genauer hin­zuschauen, hinzuhören, um was für ein Problem es sich handelt – und zu unter­scheiden, um wessen Probleme es eigentlich geht? Manchmal macht es mich richtig wütend, wenn Angehörige blindlings mitleiden und mit ihrem Jammer, genau genommen, die Aufmerksamkeit auf sich selber lenken statt auf denjenigen, der das Problem hat! Bei mir weckt das immer Erinnerungen daran, wie allein gelassen ich mich fühlte, und wie schuldig, wenn es mir schlecht ging, wenn ich Schmerzen hatte – und meine Mutter in Verzweiflung stürzte, weil sie mir nicht helfen konnte. Nein, das hat wirklich nicht geholfen! Das hat mich einsam gemacht. Ich habe damals daraus gefolgert, dass ich alleine zurecht kommen muss, um nicht auch noch schuldig zu werden am Kummer anderer, die es doch so gut mit mir meinen. Weil niemand helfen kann. Weil keiner mir meinen Schmerz abnehmen, wegnehmen kann. Also, habe ich mir gesagt, behalte ich besser für mich, was mich quält, und lasse mir nichts anmerken. Es genügt ja schließlich, wenn einer leidet. Also habe ich habe gelernt, zu strahlen und so gut wie möglich zu funktionieren – egal, wie ich mich fühlte. Ich bin sicher, das hat meine Mutter so nicht beabsichtigt. Später selber Mutter, war auch ich meinem Kind nicht immer hilfreich. Habe abgewiegelt: „Ist nicht so schlimm.“ wenn ihm Schmerzliches widerfahren war. Habe abzulenken versucht. Statt zu sagen: „Ja, das tut verdammt weh! Komm her, ich halte Dich fest, damit von meiner Kraft etwas zu Dir hinüber fließen kann – wir halten das miteinander aus.“ So, auf diese Weise wird geteiltes Leid zum halben Leid!

Mitleid macht noch mehr Leid

Warum fällt uns das so schwer? Liebevoll zu teilen, Anteil zu nehmen – anstatt das Leid eines geliebten Menschen auch noch zu unserem eigenen zu machen – und es damit, genau genommen, zu verdoppeln!? Mir scheint, dahinter steckt ein Missverständnis: Liebe nämlich, wahre Nächsten-liebe erlaube nicht, das Leid eines geliebten Menschen mit anzusehen und auszuhalten. Dabei leiden die ohnmächtigen Zeugen oft heftiger als die Betroffenen selbst. Und am Ende weiß niemand mehr, was ist was und wer ist wer: Wenn ich leide, weil Du leidest, und Du leidest weil ich leide, weil Du… Dann stürzen wir uns in heillose Ablenkungsmanöver, verlieren uns auf der Suche nach Klärung, Erklärung und Wiederherstellung der gestörten Ordnung. Wir wollen wenigstens verstehen, warum es ist wie es ist. Wie diese Mutter, deren Tochter mit ihren Ängsten und Zwängen, die ganze Familie in Schach hält und zeitweise ganz verstummt ist – was die Mutter vollends zur Verzweiflung gebracht hat: „Wenn sie mir doch sagen würde, was los ist, was sie quält, warum sie sich so verhält. Wenn ich es verstehen könnte, dann könnte ich damit umgehen! Dann könnte ich es akzeptieren! Welch ein Anspruch! Wahrscheinlich weiß die Tochter doch selber nicht, was mit ihr los ist! Wie könnte sie sich der Mutter erklären? Worüber soll sie „Rechenschaft“ ablegen? Selbst wenn sie es könnte – muss sie das auch wollen? Kleine und große Kinder haben doch ein Recht auf Eigen-Sein, Eigen-Leben, Eigen-Sinn, ja, auch auf Geheimnisse. Gibt es ein Recht auf Verstehen? Und als Konsequenz daraus: die Pflicht, sich verständlich zu machen? Muss man erst verstehen, bevor man etwas akzeptiert, respektiert, es sein lässt, wie es ist? Soll ich alles ablehnen, muss ich alles abwehren, was ich nicht verstehe? Ich bin im Laufe meines langen leidvollen Lebens zu der Einsicht gelangt: Ich kann und ich muss nicht alles verstehen, was es gibt zwi­schen Himmel und Erde. Und manchmal will ich auch gar nicht verstehen! Ja, für Angehörige ist es oft sogar hinderlich, allzu viel allzu gut zu verstehen: Erliegen wir doch gar so leicht der Gefahr des "Alles verstehen heißt alles verzeihen". Und das verführt zu therapeu­tischem Verhalten - was die Realität erst recht verzerrt, verrückt. Ich bin die Mutter meines psychosekranken Sohnes, also mit betroffen, mitverstrickt. Ich kann nicht seine Therapeutin sein. Ich weiß nicht, warum er so krank geworden ist. Ich weiß nicht, warum er sich rund 15 Jahre lang geweigert hat, Hilfe anzunehmen. Es ist mir nicht leicht gefallen einzusehen und zu akzeptieren, dass ich ihm nicht helfen konnte - jedenfalls nicht so, wie ich es mir und er es sich gewünscht hätte. Ich habe gelernt zu unterscheiden, was mein Problem und was sein Problem ist. Er hat mir – mit seiner unerbittlichen Konsequenz – beigebracht, mich um meine Probleme zu kümmern und ihm die Verantwortung für seinen Lebensweg, für seinen Umgang mit seinen Problemen zu überlassen. Weil ich nicht wissen kann, was für ihn das Beste, das Richtige ist. Oft genug weiß ich ja noch nicht einmal, was für mich jetzt das Beste wäre! Keine Frage: Die Art und Weise, wie mein Sohn sein Leben lebt und gelebt hat, das wäre nichts für mich. Deshalb lebe ich anders – ebenfalls so recht und schlecht, wie es mir mit meinen Unzulänglichkeiten halt gelingt. TROTZDEM bewundere ich meinen Sohn – und liebe ihn so wie er ist: teilweise noch immer sehr vertraut und manchmal auch ganz ungeheuer fremd!

Unverstandenes (so) sein lassen

Ja, es gibt unendlich vieles zwischen Himmel und Erde, was ich nicht verstehe. Manches nehme ich verwundert zur Kenntnis und kümmere mich nicht drum. Manches macht mich neugierig – auf manches lasse ich mich einfach ein, auch wenn es mir ein Buch mit 7 Siegel bleibt. Ich habe da z.B. so ein kleines Gerät mit einem blauen Kullerauge in meinem Auto. Das weist mir mit freundlicher Frauenstimme den Weg durch unbekannte Gefielde. Annemarie – so nenne ich sie – hat Verbindung zum Himmel. Sie kommuniziert und kooperiert mit Satelliten. Warum und wie dieses Wunderwerk der Technik funktio­niert - und auch noch richtig spricht – das werde ich wohl nie wirklich verstehen! Und es tut’s doch! Also, ich habe mich darauf eingelassen. Wir sind noch per Sie, aber Annemarie hat sich als treue Wegbegleiterin entpuppt – fast so, wie ich mir in schwierigen Zeiten Angehörige, Freunde, professionelle Helfer wünschen würde: 

  • Sie sagt mir, wo’s lang geht – wenn ich ihr sage, was ich von ihr wissen will: welches Ziel ich erreichen will, auf welchem Weg, ggf. mit welchen Zwischenstationen.
  • Sie überlässt es mir, ob ich Ihren Empfehlungen folge – und ist nicht beleidigt, wenn ich willentlich oder versehentlich von der vorgegebenen Route abweiche.
  • Nein, sie lässt sich nicht verunsichern, nicht beirren, sie bleibt stets freundlich und geleitet mich dann einfach über den eingeschlagenen Umweg ans Ziel. Auch wenn ich noch so viele unerwartete, unangemeldete Haken schlage.

Trotzdem bin ich manchmal sauer auf Annemarie – weil sie einfach alles mitmacht, mir alles erlaubt, nichts hinterfragt, keine Konsequenzen und im Zweifelsfalle keine Alternativen aufzeigt. Sie hat überhaupt keine eigene Meinung, von Gefühlen ganz zu schweigen. Ich finde das irgendwie charakterlos. Als ich kürzlich in Bayern auf dem flachen Land Richtung Nordwesten unterwegs war und versehentlich nach Süden abgedriftet bin, da hätte sie mich doch wenigstens warnen müssen: He, Moment mal. Jetzt bist Du aber ganz verkehrt. Ich fahr’ ja gern mit Dir zum Bodensee oder auch zurück nach Italien. Aber wenn Du auf dem schnellsten Weg zur Autobahn nach Köln willst, dann fährst Du besser sofort zum Kreisel zurück und nimmst dort die 3. Ausfahrt. Aber nein. Sie hat mich – ebenso klaglos wie ungerührt - auf einer großen Südwest-Schleife durch die Prärie zur Autobahn gelotst. Zugegeben, Umwege sind oft viel interessanter, viel kurzweiliger als die direkte Route. Aber meine Freunde mussten über eine Stunde auf mich warten – und das gute Essen wurde kalt! Was lernt und das? – fragt der Kölner. Nobody ist perfect, niemand ist vollkommen – und sei er/sie noch so tüchtig. Wir sind also gut beraten, wenn wir nicht blindlings vertrauen, die Verantwortung für unsere Belange nicht vollständig abgeben – sondern hin und wieder auch selber in die Landkarte schauen. Das heißt: Wir müssen Abschied nehmen von dem kindlichen Wunschbild der unfehlbaren allmächtigen Eltern, das in unserer Autoritätsgläubigkeit weiter wirkt – und sich unversehens zum Feindbild verkehrt, wenn wir von den überforderten, weil überschätzten Eltern/Autoritäten enttäuscht werden. Unsere Dauerkonflikte mit Psychiatern und anderen professionellen Helfern legen davon beredtes Zeugnis ab. „Enttäuschungen“, sagt Irmgard Erath: „Enttäuschungen sind Haltestellen auf unserem Lebensweg: Sie geben uns Gelegenheit umzusteigen, wenn wir in falscher Richtung unterwegs sind.“

Aus Fehlern lernen und lernen lassen

Es ist der Reisende, der Wanderer, der entscheidet, welche Richtung er einschlägt, welchem Wegweiser, welchem Rat er folgt. Aber als liebevoll besorgte Begleiterin würde ich – anders als Annemarie – für mich entscheiden, ob und wie weit ich mitgehe, was ich für sinnvoll, angemessen, mir zumutbar halte. Die Verantwortung für mein Wohl zu übernehmen, heißt: mein Befinden nicht vom Wohlbefinden anderer abhängig zu machen, schon gar nicht vom Tun und Lassen ausgerechnet desjenigen, den wir eigentlich ent-lasten wollen. Denn der hat mit seinen eigenen Problemen schon genug zu tragen! Aber, so höre ich Sie sagen: Wie kann ich’s mir gut gehen lassen, wenn es meinem geliebten Angehörigen so schlecht geht?! Ich darf ihn doch nicht einfach seinem Schicksal überlassen, ich kann ihn doch nicht einfach fallen lassen! Ist es Liebe, wenn ich glaube, das Schicksal meines Angehörigen in die Hand nehmen und korrigieren zu müssen? Wenn ich mich – womöglich auch noch ungebeten, ungefragt – einmische, wenn ich mich zum Maßstab mache? Habe ich meinen erwachsenen Sohn fallen gelassen, als ich ihn los-gelassen, aus meiner Obhut auf seinen Weg entlassen habe? Wenn ich ihm vertraue – auch wenn er krank ist? Wenn ich ihm erlaube, zu irren – und darauf baue, dass er aus seinen Fehlern mehr lernt als aus meinen. Ein bisschen Mut gehört dazu. Aber ich finde, den darf man uns auch abverlangen. Was wäre sonst die Liebe, die Nächsten-Liebe wert? Wir – Psychiatrie-Erfahrene wie Angehörige – beklagen unentwegt, dass die Profis uns nicht auf gleiche Augenhöhe kommen lassen, dass sie uns nicht als gleich­rangige, gleichberechtigte Partner anerkennen. Fangen wir doch unter uns, zuhause, schon mal damit an!

Ich möchte mit einem Gedicht von Erich Fried schließen, in dem ich den Leitsatz für meine Überlegungen gefunden habe. Es hat mich sehr berührt, vermittelt es doch ganz dicht, was wir alle durchleben, wenn wir zu Angehörigen werden 

Erich Fried:
Was es ist

Es ist Unsinn
sagt die Vernunft.
Es ist was es ist
sagt die Liebe.

Es ist Unglück
sagt die Berechnung.
Es ist nichts als Schmerz
sagt die Angst.
Es ist aussichtslos
sagt die Einsicht.
Es ist was es ist
sagt die Liebe.

Es ist lächerlich
sagt der Stolz
Es ist leichtsinnig
sagt die Vorsicht
Es ist unmöglich
sagt die Erfahrung
Es ist was es ist
sagt die Liebe.