Politik

Kongress der Grünen im Landtag
Weil der Mensch ein Mensch ist…
Die Zukunft der Gemeindepsychiatrie in NRW
Düsseldorf am 18. 03.2004

Susanne Heim, Angehörige:
Weil die Menschen verschieden sind…
Dem Eigen-Sinn Zeit und Raum geben

„Die Zukunft der Gemeindepsychiatrie in NRW“ soll hier zur Debatte stehen. Doch beschränkt sich der Fokus, genau genommen, auf einige (durchaus fragwürdige) Bereiche der Psychosen-Therapie und damit auf einen vergleichsweise kleinen Ausschnitt aus dem weiten Feld der Gemeindepsychiatrie. Außen vor bleiben nicht nur die Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie die Forensik. Außen vor bleiben – hoffentlich nur auf diesem Kongress und nicht in der Zukunft! – auch die Gerontopsychiatrie und, last but not least, der Sucht- und Obdachlosenbereich, wo die besonders schwer und chronisch mehrfach beeinträchtigte Klientel der Drehtürpsychiatrie ihr Dasein fristet – wo viele, allzu viele psychisch Kranke stranden, die alles, was mit Psychiatrie zu tun hat, meiden wie der Teufel das Weihwasser. Die Situation dieser Menschen mit besonders komplexem Unterstützungsbedarf ist desolat. Sie sind weder willens noch in der Lage, von sich aus Hilfsangebote in Anspruch zu nehmen und zu nutzen – oder gar ihre Interessen auf einem Kongress zu vertreten. Gerade sie aber bräuchten unsere Aufmerksamkeit, wenn wir ernsthaft darüber nachdenken wollen, wie eine bessere Zukunft der Gemeindepsychiatrie aussehen sollte.

Die Qualität der gemeindepsychiatrischen Hilfen muss daran gemessen werden, ob auch diejenigen ihren Platz finden, mit denen kein Staat zu machen ist, die Schwierigsten, die besonders bedürftig und zugleich besonders unzugänglich sind.

Für sie brauchen wir schwellenlose Angebote ohne Zugangsbarrieren wie Therapie- und Reha-Bereitschaft. Diese Menschen brauchen Zeit und Raum für individuelle, selbst bestimmte Entwicklung ohne vorgegebene Frist und Richtung. Sie brauchen eine Bleibe, einen Ankerplatz, wo sie versorgt und in Ruhe gelassen, aber nicht links liegen gelassen werden.

Wie zum Beispiel mein Sohn.

Er ist jetzt 45 und seit über 25 Jahren krank. Bei ihm hat sich die Psychose im Verlaufe der Pubertät allmählich eingeschlichen und wurde, mangels spektakulärer Krise, viel zu spät erkannt. Anfangs hat er noch - auf seine Art und sehr ambivalent - nach Hilfe gesucht. Doch er konnte nichts und niemanden finden, bei dem Compliance - sprich: Bereitschaft zur Einnahme von Medikamenten - nicht Vorbedingung gewesen wäre, sondern ein mögliches therapeutisches Etappenziel. Mein Sohn hat es deshalb vorgezogen und fertig gebracht, sich fast 15 Jahre lang jeglicher Behandlung zu entziehen.

Ende 1990 hat er sich zum ersten Mal einer Zwangseinweisung gebeugt, hat eine längere stationäre Behandlung und anschließend ambulante Medikation über sich ergehen lassen. Und die schien ihm gut zu bekommen. Von außen besehen. Gut gefühlt hat er sich dabei wohl nicht: Nachdem die amtliche Betreuung – wegen guter Compliance – aufgehoben worden war, und als dann auch noch seine Bezugsperson im Sozialpsychiatrischen Zentrum in Erziehungsurlaub gegangen war – da hat mein Sohn die Medikamente weggeworfen und sich wieder in seine Welt zurückgezogen. Unerreichbar, ungreifbar für weitere sechs Jahre!

Bis die Widerstandskraft erschöpft war.

Seit fünf, bald 6 Jahren lebt er nun – aus eigenem Entschluss – in einer Einrichtung, in der er einfach nur versorgt, respektiert und in Ruhe gelassen wird. Alle ambulanten Hilfsangebote hat er zurückgewiesen, hat seine Wohnung aufgegeben und ein ¾ Jahr in der Klinik ausgeharrt, um diesen Platz zu bekommen – in einem Wohnheim, wo er nach dem Reglement des Landschaftsverbandes „fehlplaziert“ ist und nach den Kriterien ambitionierter Helfer nur „verwahrt“ wird. Aber: Hier ist eine Entwicklung möglich geworden, wie man sie nach so langer Zeit gar nicht mehr für möglich hält oder zu erhoffen wagt! Sie ist möglich geworden, nicht obwohl, sondern gerade weil ihn niemand therapieren will!

Unter diesen Bedingungen kann er sich allmählich wieder mehr Kontakt mit unserer Welt leisten, kann aus seinem Schneckenhaus heraus kommen. Er entfaltet wieder Kreativität, Kontaktbereitschaft, Interesse an seiner Umgebung. Ja, er wagt sich gelegentlich sogar an schmerzliche Erinnerungen, an Gefühle, sucht Rückbezüge zu seiner Lebensgeschichte. Von dem, was gemeinhin als Krankheitseinsicht bezeichnet und gefordert wird, ist er freilich noch immer meilenweit entfernt.

Kürzlich ist er – zum ersten Mal nach 5 ½ Jahren - haarscharf an einer Klinikeinweisung vorbei geschrappt: Er hatte sein angeblich so gut bekömmliches und deshalb die Compliance förderndes atypisches Neuroleptikum in letzter Zeit heimlich ausgespuckt… Dass es gelungen ist, gerade noch rechtzeitig die Notbremse zu ziehen, das ist der aufmerksamen Begleitung durch das Team im Heim und seinen amtlichen Betreuer zu verdanken: der haltenden Beziehung, die sie mit souveräner Langmut und „langer Leine“ über die Jahre aufgebaut haben.

Und die Moral von der Geschicht’?

Weil die Menschen verschieden sind, gibt es nicht den einen Königsweg für alle!
Weil die Menschen verschieden sind, haben sie unterschiedliche Bedürfnisse und Bedarfe, unterschiedliche Talente und Kraftreserven, um ihr Leben so zu gestalten, dass sie es als einigermaßen lebenswert empfinden können.
Weil die Menschen so verschieden sind, brauchen wir vielfältige Unterstützungsangebote, die sich an den Wünschen und Ressourcen der betroffenen Menschen orientieren – nicht an den Vorstellungen von Psychiatern, Psychotherapeuten und Bürokraten!

Wer sich für meine Freiheit zur Krankheit stark macht, muss mir auch Zeit und Raum geben, meinen Eigen-Sinn zu entwickeln, muss mir das Recht auf Versuch und Irrtum zubilligen, das Recht, meinen Lebensweg und Lebensstil, meine Nah- und Fernziele selbst zu bestimmen - auch wenn mir die Anpassung an gutbürgerliche Normen nicht gelingt oder auch gar nicht erstrebenswert erscheint – auch wenn ich mich auf dem Bauwagenplatz neben der Autobahn besser aufgehoben fühle als in der therapeutischen Wohngemeinschaft.

Wer meine Freiheit zur Krankheit hoch hält, muss mein ganz persönliches Ringen um psychische Stabilität und persönliche Identität respektieren und aushalten – auch wenn dieses vorübergehend oder gar auf Dauer einen Schonraum braucht und womöglich eine sogenannte Hospitalisierung einschließt.

Die Familie kann einen solchen Schonraum in der Regel nur begrenzt zur Verfügung stellen, braucht dann aber – nicht nur in der Krise - ebenfalls fachliche Unterstützung. Bei der Familienpflege ist dies gar kein Thema: Wer einen fremden Patienten aufnimmt und begleitet, bekommt nicht nur eine Aufwandsentschädigung, sondern selbstverständlich auch intensive professionelle Begleitung. Angehörige, die schließlich immer mitbetroffen sind, werden mit ihren Fragen und Sorgen noch immer allein gelassen und dürfen ihre unfreiwillig freiwilligen Dienstleistungen auch noch selber finanzieren.

Qualifizierte psychiatrische Hilfe schließt psychosoziale Begleitung ein!

Wenn ich das Bein gebrochen habe, dann gehören zur medizinischen Behandlung nicht nur Schmerzmittel, sondern ganz selbstverständlich auch Gipsverband, Gehgips, Krücken, Krankengymnastik/Mobilitätstraining.

Wenn meine Seele einen Knacks hat, brauche ich genauso Schonung und Entlastung, seelische Stützen und Krücken, vor allem in Gestalt eines verlässlichen, ermutigend zuversichtlichen Beistandes – so lange, bis meine Gehfähigkeit wieder hergestellt ist, bis ich meinen Alltag wieder eigenständig bewältigen kann. Notfalls über lange Zeit in unterschiedlicher Intensität.

Politik und Bürokratie sorgen derzeit allerdings eher dafür,
dass die Patienten/Klienten und ihre Bedürfnisse aus dem Blickfeld geraten vor lauter Verwaltung und Arbeits(um)organisation. Ganz zu schweigen von dem flächendeckenden Personalabbau und der Tendenz, die stationäre Behandlung zunehmend schwerer Kranker immer weiter zu verkürzen.

Ambulant vor stationär kann nur dann funktionieren – und wird nur dann unterm Strich nicht noch kostspieliger -, wenn in den außerstationären Bereich entsprechende Mittel und Manpower transferiert bzw. investiert werden.

Nur wenn vor Ort in der Gemeinde verlässliche Begleiter und vielfältige, leicht erreichbare, flexible Hilfen zur Verfügung stehen, lassen sich Krisen ambulant „abfangen“. Nur wenn eine notwendig gewordene stationäre Behandlung das Lebensumfeld einbezieht und ausreichend Zeit lässt für eine tragfähige Stabilisierung, nur dann kann einer Chronifizierung entgegengewirkt und die Rotation der Drehtür gestoppt oder wenigstens verlangsamt werden. Weil der Mensch ein Mensch ist!

Und weil „stationär“ nicht nur die Klinik meint, sondern auch das Wohnheim, sei noch einmal auf die Geschichte meines Sohnes verwiesen – die auf ihre Art und Weise „ambulant vor stationär“ verlaufen ist. Hätte er vor 25 Jahren eine Chance bekommen, einen Platz zum Da-sein-dürfen ohne Vorbedingungen – wie anders hätte sein Lebensweg aussehen können. Aber: Solche Basis-Angebote ohne Behandlungszwang und Reha-Druck haben auch heute noch Seltenheitswert – und werden doch so dringend gebraucht. Eine in diesem Sinne anspruchslose Bleibe würde eine große Zahl psychisch erkrankter Menschen erreichen, die heute noch durch alle Maschen im gemeindepsychiatrischen Netz fallen. Nicht zuletzt den sog. „jungen Chronikern“ böte sie die notwendige, Not wendende Basis, den sicheren Boden für ihre Suche nach Eigen-Sinn und Eigenständigkeit, für eine Entwicklung, deren Tempo und Richtung sie selbst bestimmen.

Kapital lässt sich beschaffen,
Fabriken kann man bauen,
Menschen muss man gewinnen.
(Hans Christoph von Rohr)