Keine Couch

Keine Couch kann den Coach ersetzen
Was Angehörige brauchen
Von Susanne Heim

Abstract

Eine psychische Erkrankung bringt nicht nur die Erkrankten selbst aus dem Lot, auch ihre nächsten Angehörigen müssen um ihre seelischen Stabilität ringen. Auch sie benötigen Unterstützung. Doch das „soziale Umfeld“, insbesondere die Mutter wird immer noch als Krankmacher verdächtigt. Vor diesem Hintergrund beleuchtet die Autorin, psychiatrie-erfahrene Mutter eines psychosekranken Sohnes, Bedürfnisse und Hilfebedarf der Angehörigen – zu denen nicht zuletzt die (kleinen) Kinder zählen. Sie verweist aber auch auf die Erfahrung und Hilfeleistung der Angehörigen, die professionelle Helfer wertschätzen sollten.

„Ausgehend von der Vermutung, dass an der psychischen Erkrankung die Familie eine gewisse Mitschuld trägt, muss sie auch in die Behandlung einbezogen werden, um mögliche Störungen im Familiengefüge beseitigen oder lindern zu können, die neben anderen Faktoren zur Erkrankung geführt haben.“ Diese Überlegung veranlasste unlängst einen Studenten, mich als „schizophrenogene“ Mutter um Tipps für seine Diplomarbeit zu bitten. Ihr Thema: „Arbeit mit Angehörigen“. Was er ganz arglos zum Ausdruck bringt, veranschaulicht die „therapeutische Grundhaltung“ selbst wohlwollend psychiatrisch Tätiger. Sind da nicht alle noch so gut gemeinten Angebote von vornherein zum Scheitern verurteilt?

Manch eine „therapeutische Intervention“, die uns Angehörige ratlos und gekränkt im Regen stehen lässt, wird in diesem Lichte freilich nachvollziehbar. Da erscheint es durchaus folgerichtig, wenn die bedauernswerten Opfer abgeschirmt, die Übeltäter abgewimmelt, rigoros Kontaktsperren verhängt werden. Wenn Eltern, Ehe-, Lebenspartner über die Erkrankung und Behandlung im Unklaren gelassen und aufgefordert werden, sich „herauszuhalten“, die Erkrankten „loszulassen“ – aber gefälligst verfügbar zu bleiben, als Zahlmeister und Lückenbüßer, für jede Notsituation. Wer Unheil anrichtet, soll dafür auch geradestehen.

Leistung (an)erkennen

Die Familien der Erkrankten hätten mehr Respekt verdient! Schließlich sind sie – was geflissentlich vergessen wird – der weitaus größte Träger der außerklinischen Versorgung. Rund zwei Drittel der chronisch psychisch Kranken leben bei oder in der Nähe ihrer Familie und werden von ihren Angehörigen dauerhaft unterstützt. Die sind oft ihre einzigen verlässlichen, nicht ständig wechselnden Bezugspersonen, ehrenamtliche Case-Manager in Rufbereitschaft rund um die Uhr. Da müssten doch alle am Wohle der Patienten Interessierten darauf bedacht sein, mit dieser Ressource pfleglich umzugehen!

Doch das ist nur die eine Seite. Angehörige haben auch ein ureigenes, eigenständiges Recht auf Wohlergehen, auf Freizeit, Erholung und Teilnahme am Leben in der Gesellschaft! Wenn ein uns nahe stehender Mensch psychisch erkrankt, sind wir immer mitbetroffen. Wir haben den oft schleichenden Prozess der Verunsicherung, zunehmend befremdlicher werdender Wahrnehmungen und Wesensveränderungen miterlebt, miterlitten, lange bevor irgendein professioneller Helfer ins Spiel kam. Lässt sich eine stationäre Behandlung nicht mehr abwenden, sind in der Regel die Selbsthilfekräfte der gesamten Familie erschöpft. Ja, manchmal landen Angehörige noch vor den eigentlich Betroffenen im Krankenhaus. Wenn allzu lange niemand ihre Sorgen für wahr, ihre Not ernst genommen hat.

Entlasten
Schuldzuweisungen bringen keinen weiter – auch die Patienten nicht! Das ungute Gefühl, irgendwie versagt zu haben, hegen die nächsten Angehörigen ohnehin. Wir brauchen Verständnishilfen, Antwort auf unsere Fragen: Was ist los mit meinem Familienmitglied? Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es – wie lange dauert das – kommt das womöglich wieder? Was kann ich zur Genesung beitragen? Wie soll ich mich verhalten? Angehörige benötigen vor allem emotionale Entlastung. Wir brauchen Rückenstärkung, Ermutigung Grenzen zu setzen, Verantwortung abzugeben, eigene Bedürfnisse (wieder) wahrzunehmen und zu achten. Das gelingt aber nur, wenn uns auch praktische Möglichkeiten der Entlastung – etwa durch professionelle Dienste - zur Verfügung stehen.

Wenn Angehörige hilfreich sein und bleiben sollen, müssen sie außerdem über Ziele, Sinn und Zweck, beabsichtigte Wirkungen und mögliche Nebenwirkungen von therapeutischen Maßnahmen (nicht nur der Medikamente!) halbwegs Bescheid wissen – genauso wie professionelle Helfer und die Patienten selbst. Nimmt eine Familie gegen Entgelt einen fremden Patienten bei sich auf, ist eine solche fachliche Begleitung ganz selbstverständlich. Die Herkunftsfamilie hat sie erst recht nötig. Durch ihre innere Verbundenheit mit dem Erkrankten schon besonders belastet, wurde sie ganz unvorbereitet unfreiwillig zur Pflegefamilie – ohne Aufwandsentschädigung.

Gemeinsam Lösungen suchen

Angehörige sind aber nicht nur hilfsbedürftig. Wir bringen auch Erfahrung mit und können wert¬volle Hinweise geben, die den Zugang zum Patienten erleichtern können, den Umgang mit ihm ebenso wie die Behandlung. Wir kennen die Erkrankten ja länger und besser als alle Behandler. Wir haben schließlich zusammen gelebt, meist schon in gesunden Tagen, wenn nicht von Geburt an. Veränderungen im Befinden und Verhalten nehmen wir deshalb oft früher und genauer wahr als die „Profis“. Psychiatrisch Tätige, die Angehörige als Gesprächspartner wertschätzen, können von unserem Erfahrungswissen also nur profitieren.

Es gilt, neben dem Kummer und den Sorgen, auch die Kompetenzen der Angehörigen wahrzunehmen, ihr Bedürfnis hilfreich zu sein anzuerkennen und gemeinsam mit ihnen nach Lösungen zu suchen. Das schließt u. U. eine Trennung nicht aus. Doch auch dabei brauchen alle davon Betroffenen Begleitung. Insbesondere wenn Patienten in die Familie zurückkehren sollen, sind rechtzeitige Familiengespräche unerlässlich, um gemeinsam Spielregeln und Verhaltensweisen für ein bekömmliches Zusammenleben zu entwickeln.

Viele Probleme und alltägliche Konflikte lassen sich im größeren Kreis einer Angehörigengruppe bearbeiten - sofern die sich nicht auf die Vermittlung von Information beschränkt. Der Informationshunger von Angehörigen scheint zwar unersättlich, ist aber recht vordergründig: Dahinter steckt die abgrundtiefe Ratlosigkeit angesichts der Weigerung allzu vieler Professioneller, uns an ihrem Wissen und ihrer Berufserfahrung teilhaben zu lassen, ihre Absichten und Maßnahmen zu erläutern.

Voneinander lernen

Die Angehörigengruppe ermöglicht uns die Begegnung mit Menschen, die sich mit den gleichen Problemen herumschlagen, mit den gleichen Hoffnungen und Enttäuschungen, Sorgen und Selbstzweifeln. Der Erfahrungsaustausch mit ihnen relativiert, solidarisiert, gibt Rückhalt. So können wir die Lähmung aus Ohnmacht, Scham- und Schuldgefühl allmählich überwinden und (wieder) Selbstwertgefühl entwickeln. Das macht Mut, neue Verhaltensweisen auszuprobieren – sogar mich selbst mal wieder wichtig zu nehmen. Besonders in Selbsthilfegruppen entwickelt sich daraus oft auch ein politisches Bewusstsein, das zum Engagement als Lobby für die Interessen der Erkrankten und ihrer Familien führt.

Wenn psychiatrisch Tätige an einer Angehörigengruppe teilnehmen, kann im Idealfall eine Art kollegialer Supervision stattfinden! Allerdings nur, wenn die beruflichen Helfer sich nicht als Gruppenleiter oder gar Anleiter verstehen, sondern als interessierte ebenbürdige Gesprächspartner. Solche Übungen auf gleicher Augenhöhe sollten zum Standard-Angebot aller sozialpsychiatrischen Einrichtungen gehören, helfen sie doch, gegenseitige Vorurteile zu überprüfen, Missverständnisse zu klären, unterschwelligen Machtkämpfen zwischen Angehörigen und Mitarbeitern der jeweiligen Institution den Boden zu entziehen.

Auf Kinder achten

Im höchsten Maße mitbetroffene Angehörige sind übrigens auch minderjährige Kinder! Insbesondere wenn ein Elternteil erkrankt, überschattet dies ihre Entwicklung – umso nachhaltiger, je jünger das Kind und je geringer seine Chancen, ausgleichende Erfahrungen zu machen. Kinder psychisch kranker Eltern(teile) übernehmen oft schon sehr früh Partner- und/oder Elternfunktion, werden unversehens zur Stütze der gesamten Familie – und fühlen sich verantwortlich, nicht selten ihr Leben lang. Auch sie brauchen emotionale Entlastung, (altersgemäße) Antwort auf ihre Fragen, eine verlässliche Vertrauensperson. Und Kinder brauchen Raum für Spaß und Spiel, einen Freiraum, wo sie unbeschwert Kind sein dürfen. Das muss nicht gleich ein therapeutisches Angebot sein, kann aber vor einer späteren Therapiebedürftigkeit bewahren.

Die Hand reichen – wo nötig und erwünscht

Sicher ist für manche Familien und manche Menschen eine Psychotherapie zu empfehlen. Aber als Angehörige habe ich die genauso wenig nötig wie professionelle Helfer. Ja, Vorsicht ist angesagt im Bannkreis der Psychiatrie, solange Therapeuten jedweder Schule von ihren Schuldvermutungen nicht lassen können, mich instrumentalisieren, erziehen, zu einer besseren Mutter, Partnerin, Tochter und Co-Therapeutin qualifizieren wollen. Derart beschränkte Bemühungen sind zusätzlich kränkend und kein bisschen hilfreich – aber leider keine Seltenheit. Selbst aus systemischer Familientherapie kommen Angehörige allzu oft tief enttäuscht und verletzt in unsere Selbsthilfegruppen: „Wir waren gerade dabei, unsere Schuldgefühle abzubauen – und jetzt werden wir doch wieder für alles verantwortlich gemacht.“ Erfreulichere Beispiele zeigen: Wenn wir für unsere persönlichen Probleme aufgrund unserer eigenen Geschichte psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen, dann schließt das keineswegs aus, dass wir irgendwann auch noch den Erfahrungsaustausch mit anderen Angehörigen suchen – und davon profitieren.

Für das Leben, den Umgang mit unseren psychisch erkrankten Angehörigen benötigen wir nämlich nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein (auch) uns wohlwollendes Gegenüber, das wir zu Rate ziehen können, wenn wir nicht weiter wissen. Einen Lotsen für schwierige Etappen auf dem gemeinsamen Weg, der uns gelegentlich über Klippen hinweghilft. Kurzum: Wir brauchen einen Coach – keine Couch!